An der Veranstaltung Blickwinkel Wundbehandlung von Publicare am 24.10.23 wurde ich angefragt, zum Thema Theorie-Praxistransfer ein Referat zu halten.
Bei der Frage, wer von den 120 Anwesenden sich als Praktiker:in sieht, streckten alle ihre Hände in die Höhe.
Bei der Frage, wer sich als Theoretiker:in sieht, blieben alle Hände unten.
Eine erwartete Reaktion.
Als Theoretiker:in abgestempelt zu werden ist etwas negativ konnotiertes.
Und doch ist Wissen in der Praxis nicht wegdenkbar.
Mit diesem Blogbeitrag möchte ich die Verbindung von Praxis und Theorie aufzeigen, die Herausforderungen des Transfers, aber auch Ideen mitgeben, wie die Verbindung gelingen kann.
Immanuel Kant formulierte es unter anderem so:
„Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.“
„Theorie ohne Praxis ist leer, Praxis ohne Theorie ist blind“
Es sind beide Pole notwendig. Doch wie wird die Beziehung zwischen Theorie und Praxis definiert?
Eine unüberwindbare Kluft?
Ein Spannungsfeld?
Ein Kontinuum?
Eine Waage?
Ein Kreis?
Ein Tanz?
Die Vorstellung, dass nicht nur Wissen in die Praxis "eingegossen" wird sondern die Theorie und Praxis voneinander abhängig sind, ist für mich die schönste Variante.
Beim Tanz einander auf die Füsse stehen
Was können Herausforderungen sein, dass Theorie und Praxis nicht so verbandelt sind miteinander?
Zeitliche Verzögerung
Neues Wissen braucht Zeit sich in der Praxis zu etablieren. Laut einer Studie aus den USA erhielten Patient:innen in 30-60% der Fälle nicht die Intervention, die eigentlich nach aktuellem Stand des Wissens angebracht wäre.
Kommunikation und Teamarbeit
Es erfordert und fordert die interprofessionelle Zusammenarbeit. Wissen weitergeben und Wissen annehmen können.
Zeitdruck
Bei mangelnder Zeit ist es herausfordernd auf aktuellem Wissensstand zu bleiben und Wissen anzuwenden, das erst einmal mehr Zeit benötigt, bis es etabliert und gelernt ist.
Fortbildungsmangel
Es kann zu bestimmten Themen zu wenige (erreichbare) Expert:innen geben oder ein begrenzter Zugang zu Aus- und Weiterbildung. Oder die Haltung von Personen, dass sie genug wissen und gar nicht gewillt sind sich weiterzuentwickeln.
Widerstand gegen Veränderung
Veränderungen sind unbequem und lösen Stress aus. Diese muss man erkennen und ansprechen bei der Implementierung von Projekten.
Wissen in der Praxis muss reingestreichelt nicht geprügelt oder gebügelt werden.
Sonst kann man Know-How und Vertrauen der Mitarbeitenden verlieren.
Franzbranntwein, Eisen und Föhnen und andere veraltete Pflegepraktiken
Theorie und Wissenschaftsentwicklung kann laut Brandenburg et al. (2023) die Praxis nicht unmittelbar verändern, aber sie leistet einen Beitrag, dass traditionelle Pflegepraktiken hinterfragt werden, Veränderungen besser akzeptiert werden und neue Probleme erkannt werden
Beispielsweise die Anwendung von Franzbranntwein, Eisen und Föhnen, Melkfett, Vaseline und Zink zur Dekubitusprophylaxe oder Mehl auf Brandwunden sind pflegerischen Interventionen, die lange Zeit durchgeführt wurden. Deren Anwendung wurde untersucht und widerlegt. Denn sie schaden mehr, als sie nützen. Sie verbessern nicht die Durchblutung und erhöhen das Infektionsrisiko (DNQP, 2017).
Wer trotzdem daran festhält, begeht einen Kunstfehler (Brandenburg et al., 2023).
Es ist daher immer wichtig sich zu fragen, was man tut und ob es das Richtige ist.
Wo die Theorie die Pflege weiter unterstützt, ist beispielsweise bei den Assessments. Diese versuchen die Intuition, auch als Bauchgefühl bekannt, der Pflegefachperson in Worte und Zahlen zu beschreiben. Beobachtungen zu objektivieren und vergleichbar zu machen mit Einschätzungen von anderen Personen.
Beispielsweise sind die folgenden vier Assessments für das Dekubitusrisiko weit verbreitet:
Braden
Norton
Waterlow
Cubbin-Jackson
Es gibt insgesamt 43 bekannte Dekubitusrisikoskalen.
Keine der Skalen ist die eine Beste. Denn deren Anwendung ist konktextabhängig.
Und alle haben etwas gemeinsam: das eigene Denken und Erfahrungswissen soll dabei nicht ausgeschalten werden.
Formen des Wissens
Wissen kann unterteilt werden in implizites und explizites Wissen.
Beispielsweise ein "schlechtes Bauchgefühl" kann nicht zwingend in Worten erklärt werden, beruht jedoch auf Erfahrungswissen. Explizites Wissen jedoch kann jedoch problemlos zur Verfügung gestellt werden.
Implizites Wissen | Explizites Wissen |
•Erfahrungswissen •Gleichzeitiges Wissen (hier und jetzt) •Entzieht sich häufig der Sprache •Zeigt sich in Verhalten, Gewohnheiten, Intuition, Wertvorstellungen •Praxis | •Verstandeswissen •Sequenzielles Wissen (da und damals) •Kann erklärt werden in Worten und Zahlen (Bücher, Videos etc.) •Kann problemlos weitergegeben werden •Theorie |
Tabelle: Nonaka et al. (2012)
Es ist und bleibt also eine Kunst die Hintergründe von implizitem Wissen zu erfassen und weiterzugeben.
Wenn Forschungswissen da ist, es aber nicht angewendet wird
Doch auch wenn explizites vorhanden ist, respektive neue Forschungsresultate zur Verfügung stehen, bedeutet dies nicht, dass diese in der Praxis angewendet werden.
Dies kann unter Umständen an folgendem liegen:
Sie wissen nichts darüber (Kein Zugang zu Datenbanken, Journals etc.)
Sie verstehen sie nicht (fehlendes Wissen zur Beurteilung der Qualität/ verstehen von Statistik)
Sie misstrauen ihnen (hat bisher anders auch funktioniert)
Sie wissen sie nicht anzuwenden (Standardisierte Umsetzung in der Organisation)
Sie dürfen sie nicht anwenden (Material, dass die Organisation nicht zur Verfügung stellt oder die Erwartung, dass Wissensaktualisierung nur in der Freizeit stattfinden darf)
(Hunt, 1984 zitiert nach Brandenburg, 2023)
Wie kann die Kluft überwunden und eine Brücke geschaffen werden?
Es gibt verschiedenste Möglichkeiten die Theorie mit der Praxis und Praxis mit der Theorie zu verknüpfen. Einige Möglichkeiten werden folgend aufgelistet:
Coaching, Mentoring von Pflegepersonen (bspw. durch Pflegeexperten)
Analyse der Praxis – wo liegen Schwierigkeiten, Kenntnislücken
Wissensaufbereitung – Das wissen muss relevant und verständlich sein (bspw. Praxisbezogene Schulungen)
Gesprächsgefässe: Fallbesprechungen, Erfahrungsaustausche, Sprechstunde mit Pflegeexperten
Erstellen, implementieren und aktualisieren von Konzepten, Handlungsanleitungen etc.
Interprofessioneller und organisationsübergreifender Austausch ermöglichen und fördern
Evaluierung der Implementierung (Feedback einholen, Ergebnisse messen, PDCA-Zyklus)
Interesse der Organisation sich weiterzuentwickeln (Kultur des Lernens fördern)
Einsatz von High Fidelity Simulationen, Skills Lab oder auch Virtual Reality
Anwenden von Room of Horrors
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Jennifer Kummli
Pflegeexpertin APN/ MScN, Geschäftsführerin Better Nursing
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